Interviews
Was ist psychosoziale Onkologie?
Interview mit Bianca Senf
Agnes Koß, Sonja Siegert und Anja Uhlig
Eine Krebserkrankung betrifft nicht nur den Körper, sondern hat auch enorme Auswirkungen auf die Psyche und das soziale Umfeld des Patienten. Patienten müssen also nicht nur medizinisch, sondern auch psychosozial betreut werden. Wie sieht eine solche Betreuung aus? Wir fragten Bianca Senf, wie eine Psychoonkologin arbeitet.
Was ist Ihr Aufgabenbereich?
Im Akutkrankenhaus berate und informiere ich Patienten und ihre Angehörigen beziehungsweise alle, die von der Kreberkrankung in einem weiteren Sinne betroffen sind. Mein zweiter Schwerpunkt in der Klinik ist die Fort- und Weiterbildung des Pflegepersonals und der ÄrztInnen.
Wie sieht denn die Beratung und Information aus?
In der Patientenberatung geht es um Information und Beratung zu medizinischen Themen und pflegerischen Themen, zu sozialrechtlichen Problemen und natürlich zu psychologischen Fragen. Bei sozialrechtlichen Fragen geht es primär um Themen wie ambulante Reha und Schwerbehinderten-Anträge oder aber auch, welche Kosten von den Krankenkassen übernommen werden. Hier stelle ich in der Regel den Kontakt zu unserem Sozialdienst her. Medizinische Fragen beziehen sich oft auf Therapieentscheidungen – zum Beispiel, wenn Patienten zwei Alternativvorschläge für eine Behandlung haben und nicht wissen, was für sie persönlich besser ist. Sie haben vielleicht Angst vor einer Chemotherapie, wissen nicht, ob sie durchhalten.
Was machen Sie dann?
Um hier bei der Klärung zu helfen, benutzte ich vorwiegend psychotherapeutische Interventionen – zum Beispiel Imaginationsübungen wie: „Stellen Sie sich vor, Sie sind fünf Jahre weiter, wie geht es Ihnen, wie sprechen Sie dann über die Chemotherapie? Haben Sie sie gemacht?“ Ein ganz wichtiger Bereich in dieser Beratung betrifft das große Gebiet der Krankheitsverarbeitung. Themen sind hier vor allem Angst vor Therapien, einem Rückfall oder vor dem Sterben. Auch das Thema Schmerzen und Schmerztherapie spielt häufig eine Rolle. Der Umgang mit Körperbildstörungen, zum Beispiel durch Haarverlust, oder Verlust von Körperteilen, körperliche Schwäche und Übelkeit belasten fast jeden Patienten. Sehr viele Patienten leiden allerdings auch sehr unter den Reaktionen ihres Umfelds, fühlen sich hier zusätzlich belastet und fragen bedrückt oder wütend, wie sie damit umgehen sollen. Es geht aber nicht nur um Informationen insgesamt, sondern gezielt um die beklemmende Frage, wie man jetzt weiterleben kann, wie man mit dem nun nicht mehr wegzudrängenden Wissen um die Endlichkeit des eigenen Lebens umgehen soll.
Wie ist Ihr Tagesablauf strukturiert? Wie viele Patienten sehen Sie am Tag?
Der ist wenig strukturiert. Ich mache zwar feste Termine mit den Patienten aus, werde aber häufig zwischendurch „angefunkt“ und muss auf Station, da es einem Patienten akut schlecht geht zum Beispiel, weil ihm die Diagnose gerade erst mitgeteilt wurde oder die Angehörigen gerade da sind und mit mir sprechen wollen. Diese „Einsätze“ versuche ich um meine festen Termine herum zu gruppieren. Schöner wäre es, wenn ein Psychoonkologe regelmäßiger vor Ort, also auf der Station anwesend wäre und alle Patienten kenne würde. Aber das ist leider aufgrund der Stellenkapazität in fast keiner Klinik möglich. Patienten-bezogene Beratungskonkakte werden bei uns mit Zeiteinheiten erfasst, und das sind bei uns momentan circa fünf Stunden pro Tag.
Sind Sie die einzige Psychoonkologin in der Klinik? Für wie viele Pateinten sind Sie zuständig?
Ich bin zurzeit die einzige Psychoonkologin im Haus mit einer 30-Stunden-Woche; im Jahr behandelt das Markus-Krankenhaus etwa tausend Krebspatienten. Aber natürlich sehe ich nicht alle diese Patienten, sondern nur die, die eine Beratung brauchen beziehungsweise möchten. „Brauchen“ heißt hier, dass die Patienten den Pflegenden oder Ärzten durch die Art, „wie sie sind“, auffallen. Zum Beispiel, wenn sie merken, dass ein Patient viel weint oder sehr fordernd wird oder ein Patient besonders in sich gekehrt ist. In diesen Situationen werde ich dann gerufen. Manche Patienten kommen auch direkt auf mich zu.
Müssen nicht alle beteiligten Berufsgruppen Grundkenntnisse in der psychosozialen Onkologie haben?
Ja, absolut. Ein Ziel hier für mich in der Akutklinik ist, dass alle, die mit Krebspatienten arbeiten, psychoonkologische Aspekte berücksichtigen. Die Pflegenden sollen also wissen: Wenn ich einen Krebspatienten vor mir habe, ist das nicht ein Patient wie jeder andere, sondern dieser Patient ist existentiell, das heißt in seinen Grundfesten erschüttert und hat in der Regel große Angst. Das hat große Auswirkungen auf die Kommunikation mit dem Pflegepersonal, darauf, wie er sich insgesamt verhält, ob er seine Medikamente nimmt, ob er dauernd nur klagt, ständig nach der Schwester ruft, weil er Aufmerksamkeit braucht, sich sehr aggressiv verhält und und und. Auch der Psychotherapeut braucht psychoonkologische Kenntnisse. Wenn er zum Beispiel eine Frau nach Brustamputation behandelt , muss er wissen, dass er da besonders sensibel sein muss, da sich eine Frau oft in ihrer Würde als Frau verletzt und verstümmelt fühlt. Und ganz wichtig sind psychoonkologische und kommunikative Fähigkeiten natürlich für die Ärzte: Krebspatienten kann man nicht in einem Gespräch alle Informationen vor den Latz knallen, sondern man muss sie häppchenweise , in ganz kleinen Dosen geben. Viele Patienten können nach dem Überbringen einer schlechten Nachricht innerhalb von Minuten keine Informationen mehr verarbeiten, da treten psychologische Schutzreaktionen in Kraft.
Ein Teil Ihrer Aufgabe ist also die direkte Beratung der Patienten selbst, ein anderer die Weiterbildung verschiedener Berufsgruppen, also sind Sie eine Art Vermittlerin zwischen den verschiedenen Berufsgruppen und den Patienten. Wie geht das vor sich, wie offen sind andere Berufsgruppen für solche Anregungen und die Notwendigkeit einer solchen Weiterbildung?
Ich nenne mal ein positives und ein negatives Beispiel: Die erwachsene Tochter einer krebskranken Frau hatte vor der Diagnose einen einjährigen Auslandsaufenthalt geplant. Diese junge Frau hat den Flug dann immer wieder verschoben, war verzweifelt, hatte das Gefühl, die Mutter sage ihr nicht die ganze Wahrheit. Sie konnte nicht gehen, hatte hier aber schon alles aufgelöst. Ich habe mit der Tochter gesprochen und gefragt, was sie denn an Sicherheiten brauche, um „gehen“ zu können. Unter anderem kam dabei heraus, dass es ihr guttun würde, ein Gespräch unter vier Augen mit dem behandelnden Onkologen zu haben, in dem dieser „keine Rücksicht auf die Mutter“ nehmen muss. Ich habe dem Onkologen die Situation erklärt und er war sofort bereit, dieses Gespräch zu führen. Die Mutter hat ihn von der Schweigepflicht entbunden, und die Tochter konnte nach dem Gespräch mit dem Onkologen ihre Reise antreten, weil sie sich jetzt ehrlich und richtig informiert fühlte.
Und das negative Beispiel?
Manchmal ist es so, dass die Ärzte, wenn sie ein Kommunikationsproblem haben, sich auf die Füße getreten fühlen, wenn ich dann ankomme und es „besser weiß“. Eine Patientin hat sich von einem Arzt, der jünger war als sie, nicht ernst genommen gefühlt; sie meinte, er habe sie nicht richtig aufgeklärt, Behandlungsschritte und Verlegungen auf andere Stationen nicht richtig erklärt. Er kam dann zu unserem Gespräch dazu, und weil ich mich als Anwältin der Patientin verstehe, habe ich ihm erklärt, was die Patientin noch an Informationen braucht. Dieser Arzt war empört, kam hinterher sehr aufgeregt zu mir, hat sich verbeten, dass ich in ein Gespräch eingreife.
Insgesamt wissen die Ärzte noch zu wenig, was ich als Psychoonkologin überhaupt mache und wie ich auch für sie entlastend wirken kann. Dennoch bin ich zumindest hier in der Klinik mit der Akzeptanz sehr zufrieden.
Es ist ja Teil der Ausbildung eines Mediziners, solche Gespräche zu führen. Ich kann mir vorstellen, dass ich als Onkologin ziemlich überfordert wäre, wenn ich vor allem auf die medizinischen Details gucke und mir dann schnell der Kontext aus dem Blick gerät. Wie sollte sich denn Ihrer Meinung nach die Ausbildung der Mediziner oder Pflegenden ändern? Denn jetzt wirkt es so, als müssten Sie auf der Station das wieder einführen, was in der Ausbildung versäumt wurde.
Meines Erachtens haben Mediziner keinen Abschluss verdient, wenn sie nicht mehrere Kommunikationstrainings absolviert haben oder Übungskurse nachweisen können, in denen gelehrt wird, wie man Patientengespräche führt, und sie lernen, was es für einen Menschen bedeutet, wenn er eine lebensbedrohliche Diagnose erhält. Man kann als Arzt arbeiten, ohne irgendeine Aus- oder Fortbildung im Führen von Gesprächen zu haben. Und das ist natürlich wirklich fatal. Es nehmen bundesweit, das zeigen Studien, wenige Ärzte an solchen Fortbildungen teil. Das ist aber gänzlich den Ärzten anzulasten. Die sind häufig so überlastet und damit beschäftigt, das medizinische Wissen zu erwerben, an dem sie ja auch vom Patienten nicht zu Unrecht gemessen werden, dass für diesen „Psychokram“ keine Zeit und Energie mehr aufgebracht wird. Allerdings: Die Ärzte, die ohnehin schon psychologisch und psychoonkologisch sehr kompetent sind, besuchen dennoch die entsprechenden Kurse. Die, die es bitter nötig hätten, erscheinen eher nicht. Wenn ich solche Seminare verordnen dürfte, würde ich das tun.
Wie ist das bei den Pflegenden?
Die Stimmung ist in fast allen Krankenhäusern grundsätzlich eine andere: Die Pflegenden freuen sich, dass es so was wie psychologische Betreuung gibt, aber sie wissen noch nicht, dass auch sie „psychoonkologisch“ arbeiten – das heißt, dass sie auf besondere Belange von Krebspatienten Rücksicht nehmen und sie mit einkalkulieren. Deswegen müssen auch sie sich fortbilden. Denn das, was einen Krebspatienten ausmacht, ist auch für die Pflegenden oft schwierig. Wenn ein Patient nur weint und sagt: „Ich habe Angst, dass ich sterbe“, hat normalerweise ein Pflegender keine Antworten und gibt doch oft „Tipps“, die aufmuntern sollen, aber am Bedürfnis des Patienten vorbeigehen. Zum Beispiel: „Ach, Sie müssen sich doch keine Sorgen machen, Sie haben doch einen guten Befund“ – das ist hilfreich gemeint, hilft aber letztendlich nicht.
Was ist die Alternative im Umgang mit Krebspatienten?
Ich muss Belastendes, also auch solche Aussagen von Patienten durch mich „durchlassen“, „annehmen“ können., es nicht horten, sondern mich berühren lassen und wissen, dass ich nicht auf alles eine perfekte Antwort haben muss.
Wie geht das? Was würden Sie anders machen als jemand, der mit einem guten Befund beruhigen will?
Eine Standardantwort gibt es darauf natürlich nicht. Eines der Zauberworte ist auf- und annehmen, was der Patient sagt. Auch stelle ich im Lauf des Gespräches anschließend öfter mal „Gegenfragen“: „Machen Sie sich große Sorgen? Denken Sie viel darüber nach? Was denken Sie selbst darüber?“ Es ist oft wichtig, die Aussage aufzugreifen und herauszufinden, ob noch etwas anderes dahintersteckt. Denn oft ist es so, dass hinter dem Satz „Ich habe Angst zu sterben“ vielleicht steckt „Ich mache mir große Sorgen um meinen Mann. Der kommt alleine gar nicht klar.“ Das heißt, da kommt noch ein anderes Thema auf, und es geht gar nicht um eine schnelle Antwort.
Wie hat sich die Psychoonkologie eigentlich entwickelt und was ist der derzeitige Forschungsstand?
Die Psychoonkologie ist ein relativ junges Fachgebiet der Onkologie; sie hat sich etwa 1975 begründet. Sozialarbeiter, die wegen Reha-Anträgen mit Krebspatienten zu tun hatten, stellten fest, dass die Patienten enormen Betreuungsbedarf hatten, dass sie psychische und/ oder Partnerschaftsprobleme bekamen und dass man nichts in den Händen hatte, um dem zu begegnen. In der deutschen Arbeitsgemeinschaft für Psychoonkologie (dapo), die 1983 gegründet wurde, schlossen sich viele Menschen zusammen, die mit Krebspatienten arbeiten: Ärzte, Psychologen, Sozialpädagogen, auch einige Pflegende. Es wurden viele Forschungsarbeiten initiiert, die meist durch Projektförderungen finanziert wurden. Aus der Datenlage weiß man inzwischen, dass die psychoonkologischen Interventionen die Krankheitsverarbeitung deutlich verbessern. Es gibt sogar manche Studien, die andeuten, dass Patienten mit psychoonkologischer Betreuung auch etwas länger überleben. Aber damit muss man sehr vorsichtig sein, man darf keine unseriöse Heilserwartung wecken.
Sie machen Fortbildungen für Pflegende und Ärzte. Wer finanziert das, wer organisiert das, wer nimmt sie in Anspruch?
Es gibt verschiedene Fortbildungen für Leute, die psychoonkologisch arbeiten wollen – eine große Fortbildung wird von zwei großen Fachgesellschaften angeboten: der Arbeitsgemeinschaft Psychosoziale Onkologie der Deutschen Krebsgesellschaft (www.pso-ag.de) und der dapo (www.dapo-ev.de). Inzwischen gibt es auch kleinere Fortbildungen. In den Frankfurter Diakonie-Kliniken werden sie im Rahmen der innerbetrieblichen Fortbildung angeboten, auf freiwilliger Basis und für Pflegende und Ärzte gesondert. Die Pflegenden nehmen das sehr intensiv in Anspruch und wollen viel mehr. Das Interesse der Ärzte war zu Beginn eher gering, aber das hat sich schon deutlich geändert. Mittlerweile sind der Bedarf und das Interesse größer als meine Kapazitäten.
Wie sind Psychoonkologen ausgebildet?
Das ist ein sehr buntes Feld. Der Begriff „Psychoonkologe“ ist nicht gesetzlich geschützt. Im Moment darf sich jeder Psychoonkologe nennen, der irgendwie mit Krebspatienten arbeitet oder mal einen Patienten „behandelt“ hat. Mann muss also immer fragen, welche Grundausbildung jemand gemacht hat, welche Weiterqualifizierungen, und mit wie vielen Krebspatienten er bisher gearbeitet hat. Ich finde es äußerst wichtig, dass ein Psychoonkologe eine psychotherapeutische Ausbildung und eine zertifizierte Weiterbildung im Fachbereich Psychoonkologie hat. Die genannten Fachgesellschaften versuchen gerade, einen verbindlichen Ausbildungskanon zu definieren. Aber es wird wohl noch lange dauern, bis der Begriff geschützt ist.
Und die Kliniken können momentan auch selber noch entscheiden, ob sie dafür Geld zur Verfügung stellen wollen und wen sie dann einstellen?
In den letzten Jahren gibt es solche Stellen vermehrt; sie sind allerdings meist durch Stiftungsgelder finanziert. Es ist aber eine große Errungenschaft der psychoonkologischen Fachgesellschaften, dass in den DMP-Programmen und in den zertifizierten Brustzentren psychoonkologische Beratung bereitgestellt werden muss. Aber auch das ist nicht gesetzlich geregelt. Zum Beispiel stellen manche Kliniken für zwei Stunden die Woche psychoonkologische Beratung zur Verfügung. Das ist haarsträubend, und was dann inhaltlich angeboten wird, weiß man auch nicht. Allerdings sind hier auch die Krankenkassen deutlich gefordert. Meines Erachtens sind Kliniken absolut überfordert, den ständig neuen Auflagen ohne Gegenfinanzierung gerecht zu werden.
Was bräuchte es, damit Psychoonkologie institutionalisiert wird?
Das Wissen, dass frühzeitige psychoonkologische Betreuung durch Psychoonkologen und entsprechend geschultes Personal große positive Effekte auf Patienten- sowie Behandler-Seite hat – und damit letztendlich auch Kosten senkt.
Anmerkungen: Bianca Senf hat zusammen mit Monika Rak eine Broschüre zum Thema „Mit Kindern über Krebs sprechen. Ein Ratgeber für Eltern, die an Krebs erkrankt sind“ geschrieben. Sie ist über den Verein „Hilfe für Kinder krebskranker Eltern e. V.“, Güntherstraße 4a, 60528 Frankfurt, zu beziehen.
Bianca Senf, geb. 1959, ist Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin, Psychoonkologin und langjährige Mitarbeiterin der Deutschen Krebsgesellschaft e. V. Seit 1995 betreibt sie parallel eine psychotherapeutische Praxis in Frankfurt am Main. Seit 2004 Aufbau eines psychoonkologischen Dienstes im Markus-Krankenhaus/ Frankfurter Diakoniekliniken.